Management, Führung

Persön­lich wachsen in der Unge­wiss­heit

von Dr. Carl Naughton

Instead of adapting to change, why not change to be adaptive?

Im April 2022 sagte eine Führungskraft zu mir: „Carl, ich frage mich ernsthaft, wie ich mein Team wieder zurück ins Büro bekomme?!“ Auf diese Frage hätte sie, nach 24 Monaten New-Work-New-Leadership-Proben, eigentlich bereits Antworten haben müssen. Es gab aber keine. Und sie hatte keine. Warum?

Postwachstumsbewegungen und Digitalisierung trafen uns mit der Wucht eines Faustschlags von Mike Tyson. Klar, sie waren schon vorher da. Aber nun waren sie so mannigfach, dass es kein Entrinnen gab. Die Konsequenz: Das althergebrachte Verständnis von Arbeit hat sich verflüssigt. Die Leistungsgesellschaft des Industriezeitalters bot die Sicherheit aus Überstunden, Konkurrenzkampf und Präsenzzeiten. Dieses Konstrukt erweist sich gerade als wenig zukunftsfähig. Wer glaubt, dass nach Überwinden der Krisen wieder Ruhe einkehrt, der wird enttäuscht werden. Ein Paradigmenwechsel zeichnet sich für unsere neue Arbeitswelt ab, der sich nun zügig fortsetzen wird – und jeden von uns betrifft.

Und da wartet die erste schwere Bremse: wir sind als Spezies überhaupt nicht für dieses Ausmaß an Ungewissheit gemacht. Wieder so ein Tyson, mitten ins Gesicht.

Führen in der Ungewissheit

Auf jede Führungskraft kommen damit neue Aufgaben zu: Durch das Wegfallen äußerer Strukturen oder Rahmen müssen sie die eigene Anpassungsfähigkeit ausbauen – und die ihrer Teams stärken. Neue Vereinbarungen stehen an. Im Gespräch mit Oliver Herrmann, dem Tribe Lead New Ways of Working der Deutschen Telekom, stellte sich dementsprechend heraus: die neue Kernwährung der Führung heißt Vertrauen. Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeitenden. Doch das ist nur eine Hälfte von Führung in der Ungewissheit. Hinzu kommt, dass Mitarbeitende wissen müssen, wie viel Arbeit sie in welcher Zeit schaffen und zu welcher Tageszeit sie ihre Aufgaben angehen. Das erfordert vor allem die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Im Umkehrschluss soll das aber nicht heißen, dass Unternehmen nun einfach die Verantwortung auf die Mitarbeitenden abwälzen sollten. In dieser neuen Situation sind „Hilfe zur Selbsthilfe“ und gegenseitige Unterstützung gefragt. Das ist die Kernaufgabe von Führung in der Ungewissheit: flexibler, agiler, eigenverantwortlicher.

Die drei Dimensionen des AQ

Sich flexibel an sich schnell ändernde Situationen anpassen zu können, wird ab jetzt immer entscheidender sein. Für diese oft radikalen, unvorhersehbaren und komplexen Veränderungen braucht es vor allem persönliche, soziale und methodische Kompetenzen. Der Veränderungsbereitschaft kommt dabei die wichtigste Bedeutung zu. Das fordert von den Personalverantwortlichen, ebenso wie von den Mitarbeitenden, sich mental damit anzufreunden, nicht nur regelmäßig mit plötzlich auftretender Veränderung umzugehen, sondern auf diese proaktiv zu reagieren. Reagieren und proaktiv werden, das sind die beiden Wirkrichtungen, die der AQ, der Anpassungsquotient eines Menschen, stärkt. Unsere Forschung zeigt, dass dieser AQ drei Cluster hat: einen kognitiven, einen affektiven und einen verhaltensbasierten.

Die kognitive Dimension

Die kognitive Dimension verbindet die Ausprägung und Nutzung von Zuversicht, Kontrollüberzeugungen und realistischem, flexiblem Optimismus. Zuversicht vereint die Überzeugungen, dass es viele Wege zum Ziel gibt und dass Menschen diese auch finden. Kontrollüberzeugungen wirken darauf, dass Menschen sich als Auslöser von Veränderungen sehen, und der angesprochene Optimismus ist die begründete Überzeugung, dass ein Mensch selbst für seine Erfolge ursächlich ist und nicht der Zufall oder die Leichtigkeit der Aufgabe.

Die affektive Dimension

Die affektive Dimension verbindet Emotionsregulation und den erfolgreichen Umgang mit negativem Affekt. Diese Fähigkeiten, eine Art affektives Management, versetzen Menschen in die Lage, mit den Konsequenzen, die aus der permanenten Veränderung entstehen, erfolgreich emotional umzugehen.

Die verhaltensbasierte Dimension

Die verhaltensbasierte Dimension amalgamiert Proaktivität, Motivationsfokus und problemorientiertes „Coping“ (Bewältigungsstrategie). Die Verbindung dieser drei Kompetenzcluster bildet das Potenzial eines Menschen ab, das ihm erlaubt, sich an Veränderungen anzupassen, aber auch sich auf zukünftige Veränderungen einzustellen.

AQ vs. IQ

Charles Darwin hat das lange vor diesem Artikel formuliert. Seine Theorie der Evolution besagt, dass weder die Intelligenz noch die körperliche Stärke einer Spezies deren Überleben vorhersagen würden, sondern die Fähigkeit, sich an ein bestehendes oder entstehendes Umfeld anzupassen. Dieser „Skill“ ruht auf zwei Grundpfeilern: unserer Fähigkeit zur Erkenntnis und unserer Reaktivität bzw. Proaktivität. Daraus wiederum entspringen unsere Fertigkeit und Bereitschaft, uns an veränderte Aufgaben, soziale oder Umfeldfaktoren anzupassen oder diese aktiv zu gestalten. Der Intelligenzforscher Robert Sternberg ruft dieser Rationale folgend 2021 das Zeitalter der Adaptive Intelligence aus, welche die klassische IQ-Intelligenz ablöst. Grund dafür ist, dass letztere gut für das Analysieren und Entscheiden mit Hilfe bestehenden Wissens ist, erstere aber nötig wird, wenn das Frühere keine gute Analyse- und Entscheidungsgrundlage für das Heutige oder gar das Morgige mehr sein kann. Mehr AQ statt IQ also. Wie sehr ein solcher AQ Booster einer handlungsfähigen Personalverantwortung ist, zeigen die fünf nachfolgenden Beispiele.

Performance Boost

„Entscheidungsfähig in der Ungewissheit dank AQ.“

Michael Mumford berichtete 1993, wie der AQ unsere Fähigkeit beeinflusst, neuartige Aufgaben zu lösen. Damit verbunden sind ein professionalisiertes Denken in Umwegen, das uns zu den diversiven Lösungsmöglichkeiten für ein und dasselbe Problem führt und uns dabei gleichzeitig das Mitdenken eines Risiko-Benefit-Assessments erlaubt. Und das, so berichtet Elaine Pulakos 2002, gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Arbeit im Team. Weitere Forschungsergebnisse von William Burns Jr. und Waldo Freeman von 2010 deuten darauf hin, dass Teams mit mehr AQ auch noch unter Druck und Anspannung besonders leistungsfähig bleiben.

Leadership Boost

„AQ fördert Führung.“

Gary Yukl und Rubina Mahsud beobachteten 2012 in ihrer Forschung, dass High-AQ-Führungskräfte in Krisensituationen handlungsfähiger bleiben. Grund dafür ist u.a. die gesteigerte mentale Flexibilität, die sich in der adaptiven Auswahl ihrer Führungsstile niederschlägt. Diese Beweglichkeit ist einer der Treiber für das erhöhte Mitarbeiterengagement, das diese Leader erleben. Ein weiterer Grund für den Leadership Boost durch AQ ist das Vermitteln eines sicheren Umfeldes, das dem ressourcenfördernden Umgang mit Fehlentwicklungen und Maladaptationen zugutekommt. Besonders im Zeitalter der Ungewissheit kann nur ein solches Uncertainty-Leadership Menschen dazu bewegen kann, auch ohne klare oder mit ständig wechselnden Handlungsleitplanken leistungsfähig und leistungsbereit zu bleiben.

Social Boost

„AQ prägt Beziehungen positiv.“

Der AQ-Wirkungshebel besteht hier durch eine erhöhte Flexibilität in der Auswahl der Kommunikationsweisen. Menschen mit mehr AQ besitzen mehr „Other-Directedness“, es fällt ihnen leichter, ihre Kommunikation auf die Bedürfnisse der Empfänger einzustellen. So entgehen sie einer Art „lost in translation“-Effekt und erzeugen gleichzeitig schneller Vertrauen, wie Robert Duran bereits 1983 in seinen Studien zur „Communicative Adaptability Scale“ belegte. Menschen mit einer erhöhten Anpassungsfähigkeit können auch im privaten Alltag flexibler kommunizieren. Diese mentale Wendigkeit ist dabei die Basis für glücklichere und gesündere Beziehungen, wie Paolo Lopes und andere 2003 berichteten.

Mental Boost

„Zufrieden im Work-Life-Kontinuum dank AQ.“

Fundament dessen ist das AQ-Skill, Situationen schneller zu erkennen, die eine Änderung der Denkweise oder des Verhaltens erfordern, sowie dieser Erkenntnis die Anpassung des eigenen Verhaltens abzuleiten. Die Folge des AQ ist, dass Menschen unschöne Erlebnisse realistischer einschätzen und sich zielführend vom negativen Erlebnis abkoppeln können. So halten sie auch in herausfordernden Situationen an ihren Zielen fest, was wiederum ihr Wohlbefinden steigert, da sie sich als Herr der herausfordernden Lage erleben. Studien legen diesen „positiven Teufelskreis“ für Menschen in der Schul(aus)bildung ebenso nahe wie für Menschen in Unternehmen.

Work-Change Boost

„Top-Transformer dank AQ.“

Job- oder Unternehmenswechsel sind individuelle Transformationsphasen. Sie verbindet, dass die Anpassungs-Intelligenz die Veränderungswellen eines solchen Change-Epizentrums abfedert. Das psychische Gerüst dieser Abfederung ist, dass Menschen mit mehr AQ die inhärenten Herausforderungen dieser Veränderungen als Chancen und weniger als Gefahren erkennen. Für sie steht die Notwendigkeit einer adäquaten Reaktion zur Wiederherstellung oder sogar Steigerung ihrer Handlungsfähigkeit im Vordergrund. Kristin Kullen erklärte 2014, dass Unternehmen mit einem starken AQ in diesem Zusammenhang einen hervorragenden Beitrag leisten können, indem sie die wahrgenommene Ungewissheit verringern und in der Erzeugung von Transparenz und psychologischer Sicherheit die Mitarbeiter mitnehmen, deren AQ bereits stärker ausgeprägt ist, und diese als Kommunikatoren gewinnen.

We adapt

Folgende drei Gedanken sollten Sie verinnerlichen:

  1. Aus- und Weiterbildung tut gut daran, den AQ der aktuellen und zukünftigen Generationen hochzuschrauben;
  2. die Anpassungs-Intelligenz besteht aus trainierbaren Persönlichkeitseigenschaften und
  3. das eigene Ausgangsniveau lässt sich klar bestimmen – so kann das Training zu mehr AQ direkt beginnen.

Daraus formt sich unsere Fähigkeit, nicht nur ein gezieltes Mandat für Stabilität oder Flexibilität zu ergreifen, sondern auch beides mit Momentum zu füllen. We Adapt.

 

Aus Lernraum Ausgabe 2-2022

Über den Autor

Dr. Carl Naughton ist Linguist und Wirtschaftspsychologe. Seit 2000 betreibt er das Open Mind Lab, dessen Projekte sich um mehr Offenheit dem Neuen und der Veränderung gegenüber widmen. Er hat das Prinzip der 4 Open Minds ins Leben gerufen, das die curious mind mit der clever mind, der courageous mind und der adaptable mind vereint. Damit begleitet er Innovations- und Transformationsprozesse vom Kulturwandel bis zur ERP-Software-Einführung. Er ist Hochschuldozent für Wirtschafts- und Führungspsychologie an der FOM Frankfurt, Research Fellow der Northern Business University und Studienautor für das Zukunftsinstitut (Neugiermanagement, Playful Business, Digitale Erleuchtung). Seit 2016 ist er Mitglied im Curiosity Council der Merck KG, der das Ziel verfolgt, mit einer nachweislichen Steigerung der beruflichen Neugier das Innovationsklima zu verstärken. Carl Naughton steht dabei oft auf der Bühne und vermittelt die Forschungserkenntnisse unterhaltsam und praxisnah. Darüber hinaus ist er Kolumnist bei der Frankfurter Rundschau.