Management, Führung

Carl Naughton im Interview: „Wir brauchen mehr AQ und weniger IQ“

Interview mit Carl Naughton

Die Frage, wie gut ausgeprägt unser AQ – unser Anpassungsquotient – ist, wird darüber bestimmen, wie gut wir uns im New Normal zurechtfinden werden. Die gute Nachricht: Unser AQ ist wie ein Muskel – wir können ihn trainieren. Denn heute und in Zukunft brauchen wir mehr Anpassungsfähigkeit denn je. Unsere Welt ist komplexer geworden und je komplexer sie wird, desto weniger können wir einem einfachen linearen Denken folgen. Aus dem hässlichen Entlein Anpassungsfähigkeit wird somit die zentrale Kernkompetenz unserer Wissensgesellschaft im post-industriellen Zeitalter. Wir haben mit GABAL Autor und Wirtschaftspsychologe Carl Naughton darüber gesprochen.

Herr Naughton, warum ist Anpassungsfähigkeit die wichtigste Zukunftskompetenz?

Eine gute Frage: Was macht diese intelligente Anpassungsfähigkeit gerade jetzt so interessant? Wenn Sie kurz drüber nachdenken, merken Sie: es ist eigentlich eine rhetorische Frage. Alles ändert sich. Permanent. Wenig hat Bestand. Weder in der medizinischen Sicherheit noch in den Arbeitsformen und -umständen. Die Zukunft findet nicht in der Zukunft statt, die Zukunft findet jetzt statt: die Auswirkungen der Technologie, die Auswirkungen des demografischen Wandels, die Auswirkungen der Globalisierung und des Klimawandels.

Es geht darum, wie wir unsere Gedanken und unser Verhalten auf die Ungewissheit abstimmen und wie wir darauf reagieren. Dies wird für unser Überleben entscheidend sein. Wir können nicht zu der Zeit vor dem Coronavirus zurückkehren, zu der Idee „Lieber so wie früher.“ Diese Denkweise hat die Innovation in so vielen verschiedenen Bereichen zunichte gemacht. Zum Menschsein und zum Leben gehört vielmehr die angeborene Fähigkeit, sich anzupassen. Man muss sich hundertprozentig zu eigen machen, wer man ist und wohin man will, um das zu erreichen.

2014 sagten 91 Prozent der befragten HR-Leiter voraus, dass die Fähigkeit eines Bewerbers, mit ständigen Veränderungen zurecht zu kommen, eines der Hauptkriterien für die Einstellung sein wird. Wenn wir also die Menschen durch die Brille der Anpassungsfähigkeit befähigen können, haben wir meiner Meinung nach viel Grund, optimistisch zu sein.

Carl Naughton im Interview: „Wir brauchen mehr AQ und weniger IQ“

Der AQ – also der Anpassungsquotient – ist künftig sogar wichtiger als der IQ. Woran liegt das?

IQ dreht sich in großen Teilen um Logik. Welche Zahl kommt in der folgenden Reihe als nächstes? 1, 2, 4, 8, 16, ...?"  Die Antwort ist natürlich zweiunddreißig. Aber wo genau brauchen wir das in unserem komplexen Alltag? Stellen Sie sich nun vor, ein Mensch schneidet bei eine IQ-Test fabelhaft ab. Wenn wir diese Person als „intelligent“ bezeichnen, dann betrachten wir Intelligenz wirklich nur im Sinne ihrer operativen Definition, wie sie in IQ-Tests getestet wird. Aber wobei hilft das außer bei der Bestimmung eines Wertes? Wenn wir mit diesem trägen Wissen in eine Post-Corona Welt eintauchen, dann ist das, als wenn wir mit einem Löffel zu einer Messerstecherei erscheinen.

Adaptive Intelligenztests dagegen stellen keine Probleme vor und sagen: „Hier ist das Problem. Welche der folgenden fünf Lösungen wird das Problem lösen?“ Der schwierigste Teil eines Tests für adaptive Intelligenz besteht darin, zu erkennen, dass ein Problem am Horizont auftaucht, und dann herauszufinden, was genau es jetzt ist und was es in Zukunft sein wird. Die allgemeine Intelligenztheorie ist eine Theorie der Mittel. Im Gegensatz dazu ist die adaptive Intelligenz eine Theorie der Mittel, die für adaptive Zwecke eingesetzt werden. Deshalb brauchen wir mehr AQ und weniger IQ.

AQ ist mehr als bloße Flexibilität. Sie dreht sich um mehr als nur um das Zurechtkommen mit der Veränderung, sie dreht sich um den zukünftigen Fortbestand. Anpassungsfähigkeit ist nicht der Rückzug in die Höhle, wenn es regnet. Adaptability ist der Regenschirm, damit wir im Regen aus der Höhle herauskommen. Besonders interessant ist dabei die Frage, ob wir vorhersagen können, was als Nächstes passieren wird – ein Re-Skill oder die Veränderungsbereitschaft eines Individuums, eines Teams oder einer Belegschaft. So können wir dann Maßnahmen für diejenigen ergreifen, die Schwierigkeiten haben oder noch nicht ganz bereit sind. So setzen wir unsere Ressourcen effektiv ein. Diese Arbeit ist unglaublich wichtig, um einen entsprechenden Aktionsplan zu entwerfen, um anpassungsfähiger für diese neue Arbeitsrealität zu werden, in der wir leben.

In Ihrem Buch stellen sie verschiedene Techniken zur Stärkung des eigenen Anpassungsquotienten vor. Lässt sich dieser denn wirklich trainieren?

Carl Naughton im Interview: „Wir brauchen mehr AQ und weniger IQ“

Ja, denn Anpassungsfähigkeit ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die sehr veränderbar ist. Der zweite Grund, warum es trainierbar ist, zeigte unsere Forschung rund um die Neugier. Dort haben wir Teams kleine Techniken beigebracht, die deren Neugier im beruflichen Alltag erhöhen sollten. Sechs Monate haben wir die Teams begleitet und dann dazu befragt, was sich verändert hat. Die Aussagen waren sehr kurios. Sie sagten: „Durch die Nutzung der Technik hat sich mein Denken und Verhalten geändert.“ Das heißt, wir müssen nicht mehr sklavisch an der Maxime „Skillset follows Mindset“ festhalten und hoffen, dass wir das Denken ändern, damit sich das Verhalten ändert. Es gilt auch das genaue Gegenteil: Zeige Menschen eine Technik (Skillset), begleite sie bei der niedrigschwelligen Integration in ihren Alltag, und in der Folge verändert sich, was sie denken (Mindset). Dieses Ergebnis hat uns damals bis in den Harvard Business Manager gebracht. Fazit: Ein Training wirkt, wenn es richtig angegangen wird: messen, trainieren, begleiten, messen.

Sie unterscheiden drei Formen des AQ: Erkenntnis-AQ, Emotions-AQ und Handlungs-AQ. Können Sie die Begriffe kurz erklären?

In der Forschung haben wir entdeckt, dass der AQ aus drei Kompetenzclustern besteht: einem kognitiven, einem affektivem und einem verhaltensbasierten. Die kognitive Dimension verbindet die Ausprägung und Nutzung von Zuversicht, Kontrollüberzeugungen und realistischem, flexiblen Optimismus. Zuversicht vereint die Überzeugungen, dass es viele Wege zum Ziel gibt und dass Menschen diese auch finden. Kontrollüberzeugungen wirken darauf, dass Menschen sich als Auslöser von Veränderungen sehen und der angesprochene Optimismus ist die begründete Überzeugung, dass ein Mensch selbst für seine Erfolge ursächlich ist und nicht der Zufall oder die Leichtigkeit der Aufgabe. Die affektive Dimension verbindet Emotionsregulation und den erfolgreichen Umgang mit negativem Affekt. Diese Fähigkeiten, eine Art affektives Management, versetzen Menschen in die Lage, mit den (mitunter nicht hilfreichen) Gefühlen rund um Ungewissheit und Veränderung umzugehen.

Die Verbindung dieser drei Kompetenzcluster bildet das Potenzial eines Menschen ab, das ihm erlaubt, sich an Veränderungen anzupassen, aber auch, sich auf zukünftige Veränderungen einzustellen. Diese drei Bereiche beeinflussen sich gegenseitig. Beispiel: Wenn wir Veränderungen gegenüber offen sind (Denken), dann haben wir weniger mit negativen Emotionen dazu zu kämpfen (Fühlen), und in der Folge gehen wir offener auf das Unbekannte zu (Verhalten). Umgekehrt wird ein Mensch, den Ungewissheit in Bezug auf die Entwicklung eines Projektes oder seiner Karriere eher verunsichert (Fühlen), weniger mentale Flexibilität an den Tag legen (Denken), was wiederum seine Fähigkeit, sich auf mögliche Entwicklungen vorzubereiten, stark einschränkt (Verhalten).

Eine hohe Anpassungsfähigkeit zahlt sich sowohl privat als auch beruflich aus. Können Sie Beispiele nennen, wo Anpassung wichtig ist?

Carl Naughton im Interview: „Wir brauchen mehr AQ und weniger IQ“

Nehmen wir den Zusammenhang von AQ und Lebenszufriedenheit – er gilt tatsächlich für den beruflichen wie für den privaten Teil unseres Lebens. In einem Zeitalter der Work-Life-Fluidity ist diese Korrelation auch gleichzeitig ein doppeltes Schutzschild für unsere mentale Gesundheit. Fundament dessen ist das AQ-Skill, Situationen schneller zu erkennen, die eine Änderung der Denkweise oder des Verhaltens erfordern, sowie von dieser Erkenntnis die Anpassung des eigenen Verhaltens abzuleiten. In der Folge bleiben die negativen Emotionen aus, die weniger anpassungsfähige Menschen in solchen Situationen erleben. So schließt sich der Kreis zur Widerstandsfähigkeit.
Denn die Folge des AQ ist, dass wir unschöne Erlebnisse realistischer einschätzen und zielführend vom negativen Erlebnis abkoppeln können. So halten Menschen auch in herausfordernden Situationen an ihren Zielen fest, was wiederum ihr Wohlbefinden steigert, da sie sich als HerrIn der herausfordernden Lage erleben.

Ebenso haben Studien gezeigt, dass AQ-Führungskräfte in Krisensituationen handlungsfähiger bleiben. Grund dafür ist u.a. die gesteigerte mentale Flexibilität, die sich in der adaptiven Auswahl ihrer Führungsstile niederschlägt. Diese Beweglichkeit ist einer der Treiber für das erhöhte Mitarbeiterengagement, dass diese Leader erleben. Ein weiterer Grund für den Leadership Boost durch AQ ist das Vermitteln eines psychologisch sicheren Umfeldes, das dem ressourcenfördernden Umgang mit Fehlentwicklungen und Maladaptationen zugutekommt.

Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?

Vor allem drei Gedanken halte ich für zentral:

  1. Ausbildung und Weiterbildung tun gut daran, den AQ der aktuellen und zukünftigen Generationen hochzuschrauben;
  2. Die Anpassungsintelligenz besteht aus trainierbaren Persönlichkeitseigenschaften und
  3. Das eigene Ausgangsniveau lässt sich klar bestimmen und so der Start zu mehr AQ direkt beginnen. 

Für alle drei Punkte gilt, dass sie sich auf die Fortschreibung einer nachhaltigen Zukunftsfitness in unserem Denken, Fühlen und Verhalten niederschlagen. Indem Menschen ihre AQ-Präferenzen verstehen, können sie erkennen, wie die Stärken dieser Präferenzen in ihrem Sweetspot aussehen und in welchen Situationen sie Gefahr laufen, sie zu wenig auszuspielen oder auch überstrapazieren. Daraus formt sich unsere Fähigkeit, nicht nur ein gezieltes Mandat für Stabilität oder Flexibilität zu ergreifen, sondern auch beides mit Momentum zu füllen.

Über den Autor

Dr. Carl Naughton ist Linguist und Wirtschaftspsychologe. Seit 2000 betreibt er das Open Mind Lab, dessen Projekte sich um mehr Offenheit dem Neuen und der Veränderung gegenüber widmen. Er hat das Prinzip der 4 Open Minds ins Leben gerufen, das die curious mind mit der clever mind, der courageous mind und der adaptable mind vereint. Damit begleitet er Innovations- und Transformationsprozesse vom Kulturwandel bis zur ERP-Software-Einführung. Er ist Hochschuldozent für Wirtschafts- und Führungspsychologie an der FOM Frankfurt, Research Fellow der Northern Business University und Studienautor für das Zukunftsinstitut (Neugiermanagement, Playful Business, Digitale Erleuchtung). Seit 2016 ist er Mitglied im Curiosity Council der Merck KG, der das Ziel verfolgt, mit einer nachweislichen Steigerung der beruflichen Neugier das Innovationsklima zu verstärken. Carl Naughton steht dabei oft auf der Bühne und vermittelt die Forschungserkenntnisse unterhaltsam und praxisnah. Darüber hinaus ist er Kolumnist bei der Frankfurter Rundschau.