Wirtschaft, Gesellschaft

Digi­ta­li­sie­rung ist viel mehr als ChatGPT

Interview mit Dr. Marcus Dissel­kamp

Aktuell herrscht ein wahrer Hype um ChatGPT und die generative Künstliche Intelligenz. Hierüber sprachen wir mit Marcus Disselkamp, dem Autor von „Digital Leaders“ und einem anerkannten Experten für die Digitale Transformation und digitale Geschäftsmodelle.

Herr Disselkamp, worauf beruft eigentlich dieser aktuelle Hype um ChatGPT?

Zuerst einmal schaffte das Unternehmen OpenAI mit ChatGPT einen für die Öffentlichkeit zentralen Schritt, die Künstliche Intelligenz für viele Menschen viel bewusster und spürbarer zu machen. Denn ChatGPT hat spürbar mehr „Intelligenz“ als ein Google Maps oder eine Einkaufsempfehlungen bei Amazon. Aber der wichtigste Aspekt von ChatGPT ist es, dass wir nun erste Beispiele für die sogenannte „Generative KI“ haben, also eine künstliche Intelligenz, die selbständig neue Inhalte (wie Texte, Bilder, Musik) generiert, ohne dass diese Inhalte irgendwo schon einmal genau so verfügbar waren.

Sie beobachten schon lange den digitalen Wandel. Wie wichtig war nun diese KI-Entwicklung?

Naja, natürlich ist die Generative KI wirklich ein zentraler technischer Entwicklungssprung, der schon jetzt ganz neue Anwendungen erlaubt. Gleichzeitig wird nun vielen Berufsgruppen noch bewusster, dass die schon längere Botschaft, sie müssten sich weiterentwickeln, nun immer mehr Realität wird. Aber eigentlich bestätigen ChatGPT und die vielen weiteren Generative KI Anwendungen, dass der digitale Wandel – wie schon in den letzten 30 Jahren – immer weiter voranschreitet und die Digitale Transformation von Unternehmen und Berufsgruppen unaufhaltsam ist.

Was verstehen Sie dabei unter der Digitalen Transformation?

Viele Unternehmen denken immer noch einseitig im Rahmen einer Digitalisierung (also Überführung vorhandener analoger Informationen auf digitale Formate) und vergessen die Chancen von neuen digital-orientierten Geschäftsmodellen, die dabei nicht nur die Firmen verändern, sondern auch wie, was, wo und wann wir Menschen konsumieren, arbeiten, kommunizieren und interagieren. So ersetzt beispielsweise ChatGPT nicht nur die Suchfunktion und damit einen zentralen Bestandteil des Geschäftsmodells von Google, sondern erlaubt vielen innovativen Unternehmen ganz neue Anwendungen für Privat- und Geschäftskunden. Ein Grund, warum z.B. in Hollywood gerade viele Schauspieler und Drehbuchautoren streiken, sind die neuen KI-Anwendungen einiger Startups, bei denen Studios in Zukunft kostengünstig KI-animierte, menschenähnliche Avatare für Szenen im Hintergrund animieren lassen, ohne echte Schauspieler zu bezahlen, sowie Drehbücher, die (zumindest teilweise) dank Generativer KI erstellt werden.

Und welche Rolle verbleibt dann noch für uns Menschen, wenn der digitale Wandel – und insbesonders die Künstliche Intelligenz – weiter voranschreitet?

Die fortschreitende Automatisierung und Robotisierung von Standardprozessen führt zu dem Megatrend der Projektifizierung. Dieser Begriff erklärt sich durch die Tendenz, dass im Rahmen der digitalen Transformation immer mehr Routinetätigkeiten von Computern, Maschinen und Systemen übernommen werden. Wir beobachten diese Entwicklung schon seit Jahren nicht nur in der fertigenden Industrie, sondern beispielsweise auch in Form von Online-Banking, Online-Reisebuchungen, bei automatischen Nachbestellungen oder bei der Lieferkettenüberwachung. Die Automatisierung vieler Routinetätigkeiten – nun dank ChatGPT und Co. auch bei Experten - wird weiter zunehmen. Die Funktion der Menschen verschiebt sich auf die Entwicklung, Planung und Kontrolle, aber nur noch jenseits von Routineaufgaben! Menschen werden langfristig – hoffentlich neben der Steuerung des Gesamtsystems – nur noch für jene Projektaufgaben benötigt, bei denen Kreativität, Intuition und kritisches Denken benötigt werden. Die Aufgaben der Mitarbeiter verlagern sich also verstärkt auf die Umsetzung von Projekten – was den Begriff der Projektifizierung erklärt.

Projektifizierung

Und welche weiteren technischen Entwicklungssprünge faszinieren Sie gerade neben ChatGPT?

Das ist eine richtig gute Frage! Denn ehrlich gesagt nervt mich aktuell dieser Hype um ChatGPT – auch wenn die Generative KI wirklich eine zentrale Entwicklung darstellt. Denn in den (sozialen) Medien verlieren gerade viele weitere spannende Trends an Aufmerksamkeit und Bedeutung, wie z.B. die nächste Generation von Blockchain-Technologie und Anwendungen (z.B. DApps und Web3), die zukünftigen Möglichkeiten von Metaversen (aktuell auf dem Entwicklungsstand wie das Internet Anfang der 90iger Jahren), das Edge Computing als Gegenantwort zum Cloud Computing oder die disruptiven Auswirkungen der additiven Fertigung (3D Druck) auf ganze Wertschöpfungsketten.

 

Bildnachweis: Tony Studio / istockphoto

Über den Autor

Dr. Marcus Disselkamp ist ein anerkannter Experte für Unternehmensstrategien in Zeiten des digitalen Wandels. Er ist einer der TOP100-Trainer im deutschsprachigen Raum und begleitet seit Jahrzehnten Firmen bei der unternehmerischen Wettbewerbsfähigkeit, der digitalen Transformation sowie der Effizienz von Investitionen. Mehrere Tausend Teilnehmer von Strategie- und (digitalen) Innovationsprojekten sowie Managementtrainings überzeugte er schon mit seiner praxisnahen, methodisch ganzheitlichen und dynamischen Art und Weise. Visions-, Strategie-, Innovations- und Transformationsprozesse sind bei ihm in besten Händen. Er unterrichtet an verschiedenen Hochschulen und Business Schools die Themen Strategisches Management, Innovationsmanagement und digitale Transformation. Zu diesen Themen existieren auch eine Vielzahl von Büchern und Podcast von ihm. Parallel zu seiner über 20-jährigen Tätigkeit in der Management-Beratung, übernimmt er immer wieder Organfunktionen als Beirat, Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat. So kann er auf Augenhöhe seine Kunden bei den wirtschaftlichen Herausforderungen sich verändernder Märkte, Kundenbedürfnisse, Wettbewerber, Regulierung und Geschäftsmodelle begleiten.