Persönliche Entwicklung, Karriere, Finanzen

Lagom - Lernen von anderen Kulturen

von Gundula Gwenn Hiller

Miniserie: Ein Blick über den Tellerrand

Teil 1: Jugaad
Teil 2: Lagom
Teil 3: Pura vida

Trotz technologischen Fortschritts und zahlreicher Möglichkeiten sind die Deutschen Frustweltmeisterinnen und -meister im Job. Laut einer dänischen Studie geht hierzulande jeder vierte unmotiviert auf die Arbeit. Durch die Arbeit bedingte psychische Leiden und Burnout-Erkrankungen nehmen zu. Dabei sind sich immer mehr Personalerinnen und Personaler einig: „Höher, schneller, weiter“ ist in der heutigen Arbeitswelt nicht mehr das Primärziel. Es geht um mehr Leichtigkeit im Job, mehr freie Zeit und einen tieferen Sinn. Es braucht neue Ansätze, um die Motivation, die Gesundheit und die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit auch die Arbeitsqualität aufrecht zu erhalten

Prof. Dr. Gundula Gwenn Hiller zeigt in ihrem neuen Buch „Was wir von anderen Kulturen lernen können“, dass für die Lösung solcher Probleme in der Arbeitswelt das Rad nicht neu erfunden werden muss. Andere Kulturen leben häufig genau die Lösungsansätze, die auch uns weiterbringen. In diesem Artikel, dem zweiten unserer Serie „Ein Blick über den Tellerrand“, erfahren Sie, wie mit einem skandinavischen Ansatz die Zufriedenheit und die Motivation von Angestellten langfristig hochgehalten werden kann.

Lagom vereint Erfolg, Wachstum und Work-Life-Balance

Die schwedische Lebensphilosophie lagom zeigt, wie sich Erfolg, Wachstum und Work-Life-Balance miteinander vereinen lassen. Lagom beschreibt das richtige Maß, also nicht zu viel und nicht zu wenig. Die direkte Übersetzung ins Deutsche lautet je nach Kontext „gerade genug“ oder „gut genug“. Es geht nicht darum, in allem der oder die Beste sein zu müssen, sondern langfristig zu bestehen. Dass das den Erfolg nicht ausschließt, zeigen Unternehmen wie Ikea, Volvo oder Spotify, die dieses Prinzip ebenfalls leben.

Zu viel Arbeit reduziert Motivation, Produktivität, Einfallsreichtum und wirkt sich langfristig negativ auf das Sozialleben und die Gesundheit aus. Kurzfristig mag ein Unternehmen davon vielleicht profitieren, langfristig schadet es damit jedoch der wichtigsten Ressource: dem Humankapital.

Ein gesundes Maß für die Arbeit finden

Es geht bei lagom jedoch auch nicht darum, mit der Arbeit aufzuhören und in den Tag hineinzuleben, sondern darum, ein gesundes Maß für die Arbeit zu finden. Denn eine sinnstiftende Arbeit in einem guten Umfeld ist für das persönliche Glück ebenfalls sehr bedeutsam.

Im schwedischen Arbeitsalltag zeigt sich lagom durch eine sehr gute Work-Life-Balance bei den Angestellten, für die es teils sehr strikte Regeln gibt. So dürfen Kolleginnen und Kollegen per Gesetz nach 17 Uhr nicht mehr gestört werden und am Wochenende dürfen keine Mails versendet werden.

Kaffeepause

Lagom sorgt für ein Gleichgewicht zwischen persönlichen Ressourcen und den Anforderungen der Arbeit.

Es gibt mehr Zeit für sich selbst, Familie, Freundinnen und Freunde. Wie die Glücksforschung zeigt, sorgt eine ausgewogene Work-Life-Balance für zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wer zufrieden und ausgeruht ist, kann besser und länger arbeiten. Davon profitieren alle: das Unternehmen, die Gesellschaft und die einzelnen Menschen sowie deren Umfeld.

Auch die Arbeit selbst unterscheidet sich durch diese Philosophie. Der Austausch unter Kolleginnen und Kollegen genießt in Schweden einen deutlich höheren Stellenwert. Während der fika, einer unverbindlichen, gemeinsamen Kaffeepause, tauscht man sich untereinander bei einer oder mehreren Tassen Kaffee aus. Obwohl diese Zeit nicht mit produktiver Arbeit gefüllt ist, hat der persönliche Austausch erwiesenermaßen einen positiven Effekt auf die Bürokultur und den Teamgeist. Die kurzen Auszeiten sind zudem sehr gut für die Work-Life-Balance. Gerade in Zeiten von Home Office ist dieser persönliche Austausch wichtiger geworden denn je.

Work-Life-Balance

Flache Hierarchien und Eigenverantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein weiteres Merkmal von lagom.

Niemand prahlt mit seinem Status und das Verhältnis ist unabhängig von der Position im Unternehmen stets sehr nahbar und kollegial. Es lässt sich mit der Beziehung zwischen Fußballteam und Trainerin oder Trainer vergleichen, die das gemeinsame Ziel verfolgen, den Ball ins Tor zu bringen, so Lotta Dellve, eine schwedische Arbeitsforscherin.

Studien zeigen, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann am wohlsten fühlen, wenn sie Verantwortung haben und jeder dazu beitragen kann, das Beste für das Unternehmen zu verwirklichen. Die Zeit, um Aufgaben abzuarbeiten, sinkt dadurch ebenfalls. Bei direkter und hierarchischer Führung nimmt dagegen der Krankenstand zu und das Engagement ab.

Für das persönliche Leben können wir aus der Philosophie von lagom ebenfalls etwas mitnehmen.

Auch im Privaten bedeutet lagom das Finden des richtigen Maßes für ein glückliches Leben: Nicht zu viel arbeiten, sich selbst nicht zu wichtig nehmen, eine gute Work-Life-Balance anstreben, Gleichberechtigung und sich Zeit für Muße, Kaffeetrinken, Familie und den Freundeskreis nehmen. Besonders die Liebe zur Natur ist dabei wichtig. In Skandinavien werden Freizeitaktivitäten nicht umsonst häufig im Freien ausgeführt, beispielsweise Waldwanderungen, Vogelbeobachtungen oder Zelten.

Lagom lädt uns dazu ein, auch im persönlichen Leben nach einem Glück zu suchen, das mit einfachen Mitteln zu erreichen ist. Das befreit uns vom Drang, nach immer mehr Konsum streben zu müssen. Das wirkt sich positiv auf das persönliche Glück aus und ist obendrein sehr nachhaltig.

Über die Autorin

Prof. Dr. Gundula Gwenn Hiller hat über 50 Länder bereist, in 5 Ländern gelebt und spricht 5 Sprachen. Die ausgewiesene Expertin für interkulturelle Kommunikation und Diversität hat in Kulturwissenschaften promoviert und in ihrer Arbeit sowie auf Reisen umfassende Erfahrungen mit den Kulturen dieser Welt gemacht. In über 40 Publikationen und bereits mehr als 100 Workshops in 14 Ländern gibt sie ihr Wissen weiter. Sie lehrt an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit im Bereich Beratung, interkulturelle Kompetenzen und Migration. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem BMW Group Award for Intercultural Learning ausgezeichnet.