Persönliche Entwicklung, Karriere, Finanzen

Jugaad - Lernen von anderen Kulturen

von Gundula Gwenn Hiller

Miniserie: Ein Blick über den Tellerrand

Teil 1: Jugaad
Teil 2: LagomTeil 3: Pura vida

Deutschen Unternehmen mangelt es laut einer Bertelsmann-Studie häufig an Innovationsfähigkeit. Die eingefahrenen Denk- und Verhaltensmuster sorgen für kostenintensive und zeitaufwändige Lösungen, die häufig nicht kundenorientiert sind. Im schnelllebigen und volatilen Wirtschaftsumfeld der heutigen Zeit kommen Lösungen dadurch zu spät, haben keinen Kundennutzen oder sind nicht nachhaltig.

Prof. Dr. Gundula Gwenn Hiller zeigt in ihrem neuen Buch „Was wir von anderen Kulturen lernen können“, dass für die Lösung globaler Probleme das Rad nicht neu erfunden werden muss. Andere Kulturen leben oftmals bereits genau die Lösungsansätze, die wir bei uns benötigen.

In diesem Artikel, dem ersten unserer Serie „Ein Blick über den Tellerrand“, erfahren Sie, mit welchen Prinzipien und Ansätzen die Innovationsfähigkeit hierzulande wiederhergestellt werden kann – für kundenorientiertere Ergebnisse und mehr Nachhaltigkeit.

Hierzu werfen wir den Blick nach Indien. Die dortige Arbeitsphilosophie Jugaad zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit komplexen Herausforderungen des alltäglichen Lebens innovativ umgeht, ohne viele Ressourcen zu verbrauchen. Diese Philosophie hat sich aus den Rahmenbedingungen in Indien entwickelt: für die Bewältigung des alltäglichen Lebens sind die Ressourcen dort häufig sehr begrenzt oder gar nicht vorhanden. Oft fehlt es am Nötigsten.

Der Begriff Jugaad bedeutet übersetzt

„eine innovative und improvisierte Lösung, die auf Einfallsreichtum und Cleverness beruht“.
Die 6 Jugaad Prinzipien
Abb. Jugaad-Prinzipien (Jan.-E. Hoffmann)

Dahinter steckt ein erfinderischer und unternehmerischer Geist, der auch mit widrigen Umständen klarkommt. Ein „Das haben wir schon immer so gemacht“ gibt es dabei nicht. Die eigene Vorgehensweise, zu arbeiten und nach Lösungen zu suchen, wird im Sinne einer optimalen gesellschaftlichen Lösung stets in Frage gestellt.

Diese Philosophie bedeutet nicht nur, bei fehlenden Ressourcen Notlösungen zu entwickeln. Es geht auch darum, das Beste aus den vorhandenen Ressourcen herauszuholen, um diese bestmöglich zu nutzen.

Die sechs Jugaad-Prinzipien, die wir im Folgenden kurz vorstellen, sind also auch hierzulande direkt anwendbar und insbesondere für die Nachhaltigkeit von großer Bedeutung*:

Die sechs Jugaad-Prinzipien

1) In den Widrigkeiten die Chance sehen

Jugaad bedeutet, bei Problemen nicht zu meckern oder den Kopf in den Sand zu stecken. Vielmehr werden Probleme und Herausforderungen als Chance zur Verbesserung gesehen. Herausforderungen und knappe Ressourcen sind der Nährboden für neue Ideen und Innovationen.

Jugaad - Improvisation

2) Mit weniger mehr erreichen

Es wird immer nur mit dem gearbeitet, was da ist und die Problemlösungen werden genau darauf zugeschnitten. Das ist nachhaltig und sparsam, da die Nutzung von Ressourcen optimiert wird und dabei trotzdem wertvolle Produkte und Lösungen entstehen.

3) Flexibel denken und handeln

Jugaad ist das genaue Gegenteil von eingefahrenen, innovationsverhindernden Denkmustern. Dinge und Lösungen werden hinterfragt und bestehende Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle immer wieder verändert. Die Arbeit ist grundsätzlich ergebnisoffen und es wird immer wieder ausprobiert – dadurch werden Innovationen durch feste Vorgaben und Prozesse nicht schon im Keim gedeckelt. Die Perspektive auf ein Problem wird häufig gewechselt und Lösungen im Sinne der Kundenorientierung von der Zielgruppe aus erdacht. Bei Jugaad geht es nicht um das „out of the box“ denken – vielmehr geht es darum, ganz neue Boxen zu erfinden.

4) Einfache Ideen sind oft die besten

Ein Jugaad Produkt besitzt nur das, was nötig ist, um den Anforderungen der Kundinnen und Kunden gerecht zu werden. Die Kundenbedürfnisse stehen im Vordergrund, Perfektion ohne Kundennutzen ist nicht notwendig.

5) Minderheiten mit einbeziehen

Minderheiten werden bei Innovationen häufig außer Acht gelassen. Jugaad bezieht diese stets mit ein. Kleine Innovationen können für gesellschaftliche Randgruppen eine sehr große Wirkung haben und Unterschiede werden auf diese Weise verkleinert.

Jugaad steht für Gleichberechtigung: jeder soll Zugang zu wichtigen Technologien und den damit verbundenen Möglichkeiten haben. Dieses Prinzip fußt auf der Erkenntnis, dass alle auf dem Planeten miteinander verbunden und Ressourcen endlich sind. Nur wenn alle berücksichtigt werden, können wir global näher zusammenrücken und Probleme nachhaltig und gemeinsam lösen.

6) Folge deinem Bauchgefühl und dem Herzen

Jugaad - Kreativität

Entscheidungen werden nicht auf der Grundlage von Zahlen und Daten gefällt. Sie richten sich nach den Kundinnen und Kunden und es wird dabei auf Intuition und Herz vertraut. In unseren Kulturkreisen sind Lösungen häufig zu rational. Dieses rein linkshirnige Denken verhindert Innovationen, da auf diese Weise nichts Neues entstehen kann. Die rechte Gehirnhälfte, Kreativität, Intuition und das Bauchgefühl sind für wahre Innovation sehr wichtig. Insbesondere dann, wenn Entwicklungen nicht auf Basis von Daten vorhergesehen werden können, was in der heutigen schnelllebigen Welt häufig der Fall ist.

Damit die Jugaad-Prinzipien im Unternehmen ihre Wirkung entfalten können, muss der Raum für Kreativität sowie eigene Ideen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Bereitschaft für Veränderungen geschaffen werden. Neues kann sich immer nur dann verwirklichen, wenn das bereits Bestehende losgelassen wird. In der Wirtschaft von Morgen ist dieses Humankapital um ein Vielfaches wertvoller als Technologie oder Betriebsanlagen.

Genauso bedeutsam ist es, Empathie, Intuition und Kreativität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern. Denn um den komplexen Problemen in der Welt zu begegnen und nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen, braucht es neben neuen und innovativen Ideen insbesondere diese Werte.

*Quelle:
Radjou, Navi, Prabhu, Jaideep, Ahuja, Simone: Jugaad Innovation: Think Frugal, Be Flexible, Generate Breakthrough Growth, Jossey bass/Wiley, 2012.

Über die Autorin

Prof. Dr. Gundula Gwenn Hiller hat über 50 Länder bereist, in 5 Ländern gelebt und spricht 5 Sprachen. Die ausgewiesene Expertin für interkulturelle Kommunikation und Diversität hat in Kulturwissenschaften promoviert und in ihrer Arbeit sowie auf Reisen umfassende Erfahrungen mit den Kulturen dieser Welt gemacht. In über 40 Publikationen und bereits mehr als 100 Workshops in 14 Ländern gibt sie ihr Wissen weiter. Sie lehrt an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit im Bereich Beratung, interkulturelle Kompetenzen und Migration. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem BMW Group Award for Intercultural Learning ausgezeichnet.