Management, Führung

Zwischen Aktio­nismus und Still­stand

wie Führung im Verän­de­rungs­druck wirksam bleibt

von Ralph Nolte

Wenn sich Rahmenbedingungen schneller verändern, als Führungskräfte denken können, entsteht Druck – und mit ihm das Risiko, in eine falsche Richtung zu abzudriften. Manche reagieren mit hektischer Betriebsamkeit, andere erstarren in Unbeweglichkeit. Beide Reaktionsmuster schwächen Vertrauen, Orientierung und Entscheidungsqualität.

Doch genau in diesen Phasen entscheidet sich, was Führung wirklich ausmacht. Und, wie sie für die Organisation ergebnisorientiert wirkt.

Die Illusion der schnellen Lösungen

Veränderungsdruck provoziert Aktion. Ein Meeting jagt das nächste, E-Mails werden länger, Entscheidungsbedarf kurzfristiger. Das Ergebnis: Aktivität ohne wirkliche Richtung.

„Blinder Aktionismus ersetzt aber keine geistige Windstille.“

Dieser Satz beschreibt treffend, was in Organisationen geschieht, wenn Unsicherheit unerkannt bleibt und zum Dauerzustand wird. Je höher der Druck, desto stärker wächst die Versuchung, Handlungsfähigkeit zu zeigen, statt sie zu haben. Aktionismus erzeugt Bewegung, aber keine Orientierung. Und Stillstand erzeugt scheinbar Sicherheit, aber keine echte Wirksamkeit im Sinne der Organisation.

Beide Muster sind psychologisch verständlich: Sie sind Selbstschutzreaktionen gegen Kontroll- und ggf. auch Ansehensverlust. Doch gerade in diesen Momenten zeigt sich, ob Führung gelingt.

Führung unter Druck: Was Forschung dazu sagt

Eine internationale Studie zur Adaptive Leadership kommt zu einem klaren Befund:
Führungskräfte, die in Krisen flexibel, empathisch und lernorientiert agieren, erzielen deutlich höhere Wirksamkeit als jene, die versuchen, Kontrolle zu erzwingen oder Entscheidungen zu vermeiden. Sie schaffen Orientierung, bevor sie handeln – und damit notwendiges Vertrauen.
(Quelle: The Role of Adaptive Leadership in Times of Crisis, MDPI 2023)

Das gilt nicht nur für Krisen. Auch in komplexen Transformationsprozessen ist diese Fähigkeit der mitentscheidende Faktor: Nicht Tempo oder Technik bestimmen den Erfolg, sondern die Fähigkeit, Bewusstsein vor Bewegung zu setzen. Sinnhaftigkeit vor Handlung.

Eine zweite Studie bestätigt diesen Zusammenhang aus psychologischer Perspektive:
Führung, die auf wahrgenommene Gerechtigkeit und Unterstützung setzt, verringert Widerstand gegen Veränderung signifikant.
(Quelle: The Psychology of Resistance to Change, Frontiers in Psychology 2021)

Auch diese zeigt: Menschen folgen keiner Anweisung – sie folgen Haltung und Glaubwürdigkeit. 

Wenn Kontrolle versagt

Die Versuchung ist groß, in turbulenten Zeiten auf Tools und Methoden zu setzen.
Sie vermitteln Struktur, Zahlen und Sicherheit. Doch kein SW-Programm oder noch so umfangreiches Dashboard ersetzt Führung. Und Methoden, auch und gerade agile, können unterstützen, aber sie ersetzen nicht den dringend benötigten klaren Blick, den Mut zur Priorisierung und die Fähigkeit, vorübergehende Unruhe auszuhalten. Führung zeigt sich nicht in Zahl und Umfang von Reports, sondern im Mut, sie zu interpretieren – und auch mal gegen sie zu entscheiden.

„Führung beweist sich nicht, wenn alles vermeintlich läuft – sondern wenn nichts mehr sicher ist.“

Der FAST-flow: Bewegung mit Bewusstsein

Im Veränderungsdruck braucht Führung eine Haltung, die sich zwischen Ruhe und Bewegung verorten lässt. Diesen Zustand nenne ich FAST-flow – ein Führungsmodus, der substanzielle Orientierung und ergebnisgerichtete Handlung miteinander verbindet.

Er beruht auf vier Prinzipien:

  1. Fokus,
  2. Ausrichtung,
  3. schrittweises (iteratives) Vorgehen, und
  4. Transparenz.

Doch wichtiger als das Akronym ist die Haltung dahinter: Die Fähigkeit, das substanziell Wesentliche zu erkennen, Klarheit zu schaffen, zu vermitteln und gemeinsam mit anderen Schritt für Schritt Orientierung herzustellen. Im Kern beschreibt diese Vorgehensweise eine Bewegung, die weder auf Kontrolle noch auf Chaos setzt, sondern auf bewusste Steuerung trotz widriger Umstände. Derartige Führung verändert so das reine Reagieren hin zum aktiven Gestalten.

Praxisbeispiel: Führung unter Entscheidungsdruck

In einem situativ stressgeprägten Strategiemeeting sollte entschieden werden, eine präferierte agile Methode in den Entwicklungsabteilungen einzusetzen. Der Druck war spürbar – jeder wollte möglichst schnell den richtigen Weg finden, um endlich wieder Kontrolle zu gewinnen. Nach dem Motto: Die Methode wird’s schon richten. Nach einer Weile unterbrach ich die Diskussion und stellte drei einfache Fragen:

  • Worum geht es hier eigentlich?
  • Welches betriebliche Ergebnis wollen wir mit dieser Entscheidung erzielen?
  • Und warum machen wir das überhaupt?

Man konnte eine Stecknadel fallen hören, so still wurde es schlagartig. Diese kurze Intervention veränderte den gesamten Gesprächsverlauf.

Statt über eine Methode und deren Einsatz zu sprechen, begann das Team erstmal tiefgreifend über das, worum es überhaupt gehen soll, über die gewünschte Wirkung zu sprechen: über Fokus, Prioritäten und Zielklarheit. Ohne sich durch verfrühte Methoden- und Tooldiskussionen zeitintensiv ablenken zu lassen.

Zwei Tage später fiel dann die Entscheidung. Nicht reflexartig, sondern auf Basis eines klaren und tiefen Verständnisses, um WAS es eigentlich geht und geleistet werden soll. Und welchen Beitrag diese Entscheidung zum Unternehmensergebnis beiträgt. Erst das WAS, dann das WIE. So die valide Reihenfolge unter Entscheidungsdruck!

Entschlusskraft statt Perfektion

Viele Führungskräfte wissen, dass sie nicht alle Antworten haben – und fühlen sich genau deshalb unter Druck. Dabei ist nicht das Fehlen von Antworten das Problem, sondern das Fehlen von Entschlusskraft. Entschlusskraft bedeutet, Entscheidungen zu treffen, obwohl Unsicherheit bleibt.

Perfektionismus bedeutet, Entscheidungen aufzuschieben, bis Sicherheit entsteht. Also so gut wie nie. Der Unterschied zeigt sich unmittelbar in der Wirkung auf Teams: Entschlusskraft schafft Bewegung und Vertrauen, Perfektionismus lähmt beides.

Führung im Modus „geistige Windstille“

In einer Zeit, in der Geschwindigkeit oft mit Fortschritt verwechselt wird, braucht Führung eine neue Qualität: Ruhe im Denken. Nicht, um weniger zu tun – sondern um das Richtige zu tun. Bewusstes Innehalten ist kein Rückschritt, sondern essenzielle Notwendigkeit. Sie erlaubt, Handlungen auf Wirkung zu prüfen, statt auf Gewohnheit. Sie schützt vor Reiz-Reaktions-Management und schafft Raum für sorgfältig durchdachte und kluge Entscheidungen.

Wirksame Führung entsteht leichter aus genau dieser Balance: zwischen ehrlicher Reflexion und bewusster Handlung, zwischen substanzieller Analyse und bewährter Intuition, zwischen klarer Struktur und berechtigtem Vertrauen.

Fazit

Führung im Wandel ist keine Frage des Wissens, sondern des Bewusstseins. Wer unter Druck irgendwie reagiert, um des Reagierens willen, verliert Orientierung. Wer im FAST-flow führt, also erst das WAS dann das WIE, bleibt handlungsfähig, ohne sich zu verlieren.

Der Weg dahin beginnt mit einem simplen, aber anspruchsvollen Akt: innehalten.
Denn Klarheit entsteht selten im Sturm, sondern in der Stille davor.

Über den Autor

Ralph Nolte ist Ökonom und Experte für nachhaltige organisatorische Veränderungen und promovierte in Wirtschaftsphilosophie. Er erforscht im Besonderen die Ursachen für Konfliktsituationen in Projektnachlaufzeiten agiler Projekte und Transformation. Seit 2003 ist er freiberuflich tätig als Organisationsberater mit Schwerpunkt Konzeption und Umsetzungsbegleitung, ab 2013 arbeitet er zudem als ausgebildeter Wirtschaftsmediator. Als Referent zum Thema „angewandtes Projektmanagement“ lehrt er an der Universität des Saarlandes.

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