Faszinierend, dass heute ein großer Prozentsatz der Menschen den Ausgangspunkt von Descartes’ 400 Jahre alter philosophischen Arbeit zitieren kann: „Ich denke, also bin ich.“ Dieser kurze Satz mag harmlos klingen. Aber Descartes’ Aussage erhob das isolierte menschliche Selbst zur Grundlage jeder Existenz.
Im Laufe der Zeit begannen einige Philosophen, diese Annahme infrage zu stellen. Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger und Buber beispielsweise fingen an, die Logik der individualistischen Trennung zu untergraben, die dem modernen Denken zugrunde liegt. Angesichts der Tatsachen, dass man nicht ohne andere in diese Welt geboren werden kann, dass die eigene Fähigkeit zu denken eine Sprache erfordert, die man von anderen erlernt hat, und dass die eigenen kognitiven und emotionalen Erfahrungen von den Gedanken und Gefühlen anderen gegenüber geprägt werden, kamen Philosophen zu dem Schluss, dass der individualistische Ansatz den Kern verfehlt. Das Wesentliche ist nicht ein isoliertes Selbst, sondern eher eine nackte Tatsache, die einfach Fakt ist – die Realität, dass wir in dieser Welt zusammen mit anderen sind. Wer wir sind, wird dadurch bestimmt, wer wir mit anderen sind.
Wir sind immer in Beziehung
Der Philosoph Martin Buber, der sich mit der Verbundenheit der Menschheit beschäftigte, stellte fest, dass es grundsätzlich zwei Arten gibt, in dieser Welt zu sein und mit anderen umzugehen: Wir können andere als das sehen, was sie sind, als Menschen, oder wir sehen andere als etwas, was sie nicht sind, nämlich als Objekte. In der ersten Art zu sein sind wir in einer „Ich-Du“-Beziehung, in der zweiten Art in einer „Ich-Es“-Beziehung. Der Bindestrich beim „Ich-Du“ und beim „Ich-Es“ symbolisiert jeweils, dass – im Gegensatz zu Descartes’ Ansicht – ein losgelöstes „Ich“ nicht existiert. Wir sind immer in Beziehung, unausweichlich und wechselseitig aufeinander bezogen. Wir beeinflussen andere und werden gleichzeitig von anderen beeinflusst. Wir können mit anderen verbunden sein wie mit Menschen oder wie mit Objekten, aber wir sind immer verbunden. Trennung ist eine Abstraktion. Verbunden sein ist unsere Realität.
Auf welche Weise wirken sich diese Philosophien auch heute noch aus? Was bedeuten sie ganz konkret für das Thema Führung? Stellen Sie sich zwei verschiedene Führungspersönlichkeiten vor. Eine davon sieht sich funktionsbedingt als anders und fühlt sich getrennt von denen, die er oder sie führt, und eine Führungspersönlichkeit, die sich nicht so versteht. Wir nennen die erste Führungspersönlichkeit die isolierte Führungskraft und die zweite die verbundene Führungskraft.
Isolierte versus verbundene Führungskraft
Die isolierte Führungskraft
Die isolierte Führungskraft ist von Natur aus eigenständig und damit zwangsläufig von denen, die sie führt, separiert und abgetrennt, nimmt in ihrer Wahrnehmung die Position des Subjekts ein, was die anderen, die sie führt, zu Objekten macht. Was bedeutet, dass diese Führungskraft sich selbst von Natur aus als getrennt von denen erlebt, die sie führt. Diese Führungskraft führt, und die anderen sind die Geführten. Von dieser distanzierten Stellung aus behält sich die isolierte Führungskraft die führungsrelevanten Möglichkeiten, Verantwortlichkeiten und Vorteile für sich vor. Dies tut die Führungskraft nicht aus Bosheit, sondern als logische Folge aus der eigenen Weltsicht: Für sie gehören führungsrelevante Themen notwendigerweise zu der Person, die führt. Verantwortlichkeiten, Pflichten, Möglichkeiten und Belohnungen betreffen nur das eigene Führungs-Selbst. Die isolierte Führungskraft glaubt auch an die eigene Fähigkeit, die Wahrheit über die Objekte im eigenen Team zu kennen. Die Trennung zwischen Führung und Geführten ermöglicht es ihr, von erhöhter Position aus andere zu beobachten und – ihrer Meinung nach – zu verstehen. Als Objekte scheinen sie beschränkt und führbar zu sein.
Die verbundene Führungskraft
Die verbundene Führungskraft sieht eine völlig andere Welt. Sie versteht, dass sie die Führungsposition nur temporär innehat, und weiß deshalb, dass sie sich nicht von denen unterscheidet, die sie führt. Sie und ihr Team arbeiten zusammen. Diese Führungskraft erkennt, dass die Menschen, die sie führt, Menschen wie sie selbst sind – Subjekte mit ihren eigenen Rechten, mit unendlich vielen Möglichkeiten und Perspektiven. Und sie versteht, dass ihr Status als Führungskraft ihr von denen verliehen wird, die sie führt. Sie lässt sich von ihrer Position nicht dazu verleiten zu glauben, ihre Fähigkeiten und Einsichten seien einzigartig. Verantwortlichkeiten, Pflichten, Möglichkeiten und Belohnungen werden so aufgeteilt, wie es für die Arbeit des Teams am sinnvollsten ist.
Da die verbundene Führungskraft versteht, dass die Personen, die sie führt, Menschen sind wie sie selbst und Subjekte mit eigenen Rechten, kommt sie nicht auf die Idee, andere zu kategorisieren, herumzukommandieren oder einzuschränken. Sie schätzt die Gedanken und Fähigkeiten anderer Menschen und schafft daher den Raum für andere und für sich selbst, um kreativ zu sein und wachsen zu können.
Das Mindset ist entscheidend
Nach Buber haben beide Führungspersönlichkeiten eine Beziehung zu ihrem Team, sie sind mit ihm verbunden. Die isolierte Führungskraft steht jedoch mit anderen in Beziehung wie mit Objekten, während die verbundene Führungskraft mit anderen zusammen ist wie mit Menschen. Dieser zweite Führungsstil ist realitätskonform, während der erste – der den Individualismus des modernen Denkens unterstellt – mit der Realität nicht in Einklang zu bringen ist.
Daraus folgt, dass wir in unserer Führung und in unserer generellen Lebenseinstellung immer entweder trennen oder zusammenführen. Entweder gehen wir von einer Spaltung aus, die nicht existiert, oder wir sehen und schätzen die gleiche Menschlichkeit in uns selbst und anderen. Welche der beiden Optionen wir wählen, so deutet auch Martin Buber an, und welche Folgen diese Entscheidung für uns und andere hat, hängt davon ab, in welchem Mindset wir uns befinden.
Über den Autor
Das Arbinger Institute ist mit seinen Mindset-orientierten Methoden weltweit führend in den Bereichen Führung, Change-Management, Konfliktlösung, Teambildung, Unternehmenskultur und Integration.
Seit rund 40 Jahren bietet Arbinger Organisationen und Privatpersonen Training, Beratung und Coaching an. Die Klienten reichen von Einzelpersonen, die Unterstützung bei privaten oder beruflichen Herausforderungen suchen, über nationale und internationale Unternehmen aller Größen und Branchen bis hin zu öffentlichen Einrichtungen auf der ganzen Welt.
Mit Firmensitz in den USA ist das Arbinger Institute mittlerweile weltweit vertreten mit Niederlassungen in Nord- und Südamerika, Europa, dem Mittleren Osten, Afrika, Indien, Ozeanien und Asien.
Seit 2018 ist das Arbinger Institute auch in Deutschland aktiv und bietet das gesamte Spektrum seiner Trainings-, Beratungs- und Coaching-Leistungen im Bereich Mindset Change zur Begleitung von Veränderungsprozessen an – sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch.